Wilhelm Kotarbiński: Venezianische Serenade (1881)
La bella Venezia
(frei nach Goethes „Mignon“)
Kennst du die Stadt, die sich im Meer erhebt?
Wo jedes Haus nach goldner Schönheit strebt,
Durch die sich schmal und breit Kanäle ziehn,
Der größte schlängelt sich voll Pracht dahin.
Kennst du sie wohl? – Zu ihr, zu ihr
Drängt hohe Macht mit Engelsernst in mir.
Kennst du die Kirche mit dem Kuppeldach?
Ihr Bild allein hält alle Sehnsucht wach,
Im Wasser leis treibt eine Gondel her,
Darauf steht groß ein schöner Gondolier.
Kennst du ihn wohl? – Mit ihm dahin
Möcht ich entlang morbider Gärten ziehn.
Kennst du die Brücke, ihren Bogenweg?
Weiß glänzt der Marmor auf dem Treppensteg,
Am Ufer ragt der Pfähle bunte Schar,
An jedem hängt ein Wunsch, der unsichtbar.
Rätst du ihn wohl? – So bind ihn los,
Hinübergleitet er auf dunklem Floß.
Kennst du den Platz? Es turteln Tauben drauf,
Laut schlägt die Uhr, sie fliegen flatternd auf
Hin zum Palast mit dem Arkadengang,
Du siehst die Säulen, dir wird weh und bang.
Kennst du sie nicht, die ferne Stadt?
Nie werd ich ihres welken Zaubers satt.
Italien-Deutschland, lang ist das her,
Solch Spiele und Spieler, die gibt‘s nicht mehr,
Da spielten noch Länder, spielten Legenden,
Da ließ sich der Fußball schwierig nur senden.
Doch erstmals in Farbe, gute Idee,
Brasilien hatte seinen Pelé,
Facchetti, Mazzola, Riva, Rivera,
Das waren noch Namen, welch eine Ära!
In Mexiko 70 Weltmeisterschaft,
Die Vorrunde mühsam glücklich geschafft,
Im Viertelfinale England bezwungen,
Nach 0-2 noch knapp ein 3-2 errungen.
Uns Uwe mit einem Hinterkopf-Tor!
Der stärkere Gegner stand noch bevor:
Italien, blau-weiß-blau, Betonierung,
Früh gehen sie gegen Deutschland in Führung.
Fast hundertdreitausend Zuschauer da,
Bei vierzig Grad Schatten dem Hitzschlag nah,
Die Hemden noch weiß, der Ball noch aus Leder,
Die Werbung, das Geld, das kam alles später.
Das Spiel scheint verloren, Gestik, Gemaul,
Der Schiedsrichter pfeift kein einziges Foul
Und zahlreiche Chancen lassen wir liegen,
Die Italiener scheinen zu siegen.
Sie schinden nun Zeit und legen sich hin,
Schon Nachspielzeit: Ausgleich, der Ball ist drin!
Dem Schnellinger „ausgerechnet“ gelingt er,
Verlängerung mit Spagatsprung erzwingt er.
Der Kaiser spielt weiter, schulterverletzt,
Den Arm angebunden, sieht man ihn jetzt,
Rosato, der harte Müllerbewacher,
Ist ausgetauscht, ob die Abwehr nun schwacher?
Verwirrung im Strafraum, dann Müller-Gerd,
Den Ball er über die Linie scherrt,
Die Freude nicht lang von Maier bis Seeler,
Der Vorsprung dahin und was für ein Fehler!
Dann wieder im Rückstand, kann das denn sein?!
Mit trockenem Flachschuss netzt Riva ein,
Mit Kopfball noch einmal Müller zur Stelle,
Rivera beendet schließlich die Hölle…
Italien-Deutschland, lange ist’s her,
Solch Spiele und Spieler, die gibt’s nicht mehr,
Da spielten noch Länder, spielten Legenden,
Da konnte Kommerz den Sport noch nicht blenden.
PS: Mit „Uns Uwe“, seinem Spitznamen, ist der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft Uwe Seeler gemeint, mit dem „Kaiser“ Franz Beckenbauer; die italienische Mannschaft war für ihre sehr defensive Spielweise berüchtigt, deshalb „Betonierung“; Karl-Heinz Schnellinger spielte seinerzeit in Italien beim AC Mailand, zwei seiner Mitspieler dort (Rivera, Rosato) spielten nun auf der Gegenseite, deshalb „ausgerechnet Schnellinger“, wie der damalige Fernsehkommentator bemerkte.
Grandville: Illustration aus dem Buch „Gullivers Reisen“, 1838
Gullivers Weisen
oder: Der Trittbrettfahrer
Knock-down! Es geschehen noch Zeichen und Wunder,
Nicht tot sind die Götter in Götternacht:
Einen dicken Strich hat die Göttin Corona
Durch die falsche Rechnung gemacht.
Gulliver heißt der Geistesriese,
Wollt Hölderlin sein in Hölderlins Turm,
Da fuhren ihm zweihundertfünfzig sehr fiese
Viren dazwischen im heiligsten Sturm.
Warum auch stört er die himmlische Ruhe
Dem traurigen Sänger mit dürftigem Vers?!
Schon lagen die Büchlein gedruckt in der Truhe,
Da drückte die Parze die Taste revers.
Ist alles vom 20. März an verschoben,
So kurzfristig offline und abgesagt,
Es lächeln im Äther die Himmlischen droben:
Kein Gulliverabend, der ist vertagt.
Kann leider am Büchertisch nichts mehr verkaufen,
Verschenken sein Machwerk als Klopapier
In Nürtingen, Denkendorf oder in Lauffen,
Kein Gully-Vers störe den Dichter hier!
Georg Dehn: Straßenansicht in einem süddeutschen Städtchen (spätestens 1904)
Die große Stille
Still, alles still, wie seit Jahren nicht mehr,
Ach, wenn’s doch noch länger so stille wär!
Man hört die Vögel am Tage singen,
Die Glocken hört man ungestört klingen.
Die Plätze, die Straßen, die Gassen leer,
Kein Laden geöffnet hier ringsumher,
Die Leute schweigen, sie bleiben zuhause,
Wie wohltuend wirkt ihre Daseinspause.
Die Spinne am Fenster, sie webt ihr Netz
Ganz ungehindert nach altem Gesetz,
Vom Himmel leuchtet die Sonne beglückend
Und doch wirkt es irgendwie auch bedrückend.
Still, alles still, wie seit Jahren nicht mehr,
Ach, wenn es noch länger so stille wär:
Man wähnt sich haltlos mit aller Habe
Gelähmt in einem offenen Grabe…